Lüge – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Ich liebe den Surrealismus http://superdemokraticos.com/themen/luge/ich-liebe-den-surrealismus/ Thu, 30 Jun 2011 21:40:31 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=4330

Ich mag es, wie Kinder Stück für Stück ihren Sinn für Realität entwickeln. Und ich habe das Gefühl, dass dieser Prozess mit der langsamen Trennung von Unterbewusstsein und Überbewusstsein verbunden ist…
Und, ja! Ich liebe den Surrealismus! Und, wo ich gerade bei meinen Idolen bin: Ich liebe MAX ERNST!

(c) Lilli Loge

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Was macht die Verteidigung vor meinem Fenster? http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/was-macht-die-verteidigung-vor-meinem-fenster/ Thu, 30 Jun 2011 12:16:01 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=4137 Über die Halbherzigkeit einer Ehe, die man auch Europäische Union nennt. Trotz der Idee einer Gemeinschaft, die eigentlich eine Gemeinschaftsarmee bedingen würde, halten die Nationen an ihren Nationalarmeen mitsamt deren archaischer Symbolik (Uniformen, Rituale, Blasmusik) fest. Ist das anachronistisch?

Stellen Sie sich vor, nach Jahren des allgemeinen hostilen Nebeneinanders in Europa und der verbitterten Auseinandersetzungen mit Ihren Nachbarn eröffnet Ihr Vater Ihnen auf einmal mit Hand auf der Brust und pathetischem Lächeln, er wünsche sich nichts sehnlicher als Ihre Vermählung mit der Nachbarstochter, die Sie seit einiger Zeit ohnehin heimlich trafen. Bisher hielten die Rechtsanwälte der jeweils verfeindeten Parteien den Frieden der benachbarten Grundstückseigentümer in Schach, jeder Zaunpfahl, jeder Zweig des Apfelbaums kam vors Gericht, jedes spontan miteinander gewechselte Wort wurde “missverstanden”. “Die Mütter” suchten mit aller Macht den nötigen Abstand zwischen den eigenen Nachkommen und denen des Nachbarn und “die Väter” sorgten für das eindeutige ideologische Profil.

Das deutsche Verteidigungsministerium von meinem Fenster aus gesehen.

Das deutsche Verteidigungsministerium von meinem Fenster aus gesehen.

Ihr Vater erklärt, er sei zum Schluss gekommen, die Nachbarn seien eigentlich sehr nette Leute und die Zeit sei reif für eine neue Ära des friedlichen Nebeneinanders, für eine Verbindung, die besser ist als die der Nachbarn auf der anderen Seite des Grabens und stabiler als die der Nachbarn in der Parallelstraße. Im nächsten Augenblick ziehen Sie ihren Taschenrechner hervor und machen sich ein Bild davon, wie viel Geld nun jährlich mehr zur Verfügung stehen wird, wenn man nicht zwei, sondern nur noch einen der unverhältnismäßig teuren Anwälte bezahlen müsste. Endlich hätte die Familie zusätzliche finanzielle Ressourcen frei für Neues.

Während ihre Kameraden zur Blasmusik um den Platz marschieren, stehen die Paradesoldaten in Reih und Glied: Auch das kostet Geld!

Schon kurz darauf findet ein arrangiertes gemeinsames Abendessen der beiden Nachbarsfamilien Deutschland und Frankreich statt, das mit Höflichkeitsfloskeln überladen ist und mit eigentlich überflüssig gewordenen Machtbezeugungsritualen durch die anachronistischen Anwälte vonstatten geht. Deren Gegenwart kostet den beiden Familien ein weiteres stattliches Honorar. An den beiden Köpfen der Tafel sitzen “die Väter”, jeweils rechts daneben der Anwalt und links davon “die Mutter”. Die Nachbarstochter und Sie sitzen sich, als einzige mit offenherzigem Interesse aneinander direkt gegenüber. “Die Väter” beteuern, Ziel der ehelichen Verbindung sei, die Linie des gemeinsam kultivierten Grundbesitzes zusammenzuführen und weiterzuentwickeln. Die Anwälte nicken, was im Honorar inbegriffen ist.

Als Sie sich mit der Nachbarstochter Polen am nächsten Tag treffen wollen, werden ihnen wieder die hundsteuren Rituale der Anwälte aufgezwängt, bei denen keine richtige Leidenschaft zwischen “den Versprochenen” aufkommen mag. Und auf Ihre Frage, wozu wir denn zwei Anwälte bräuchten, wir seien doch nun eine Familie, für deren gemeinsames Interesse einer ausreichen würde, wird Ihnen erwidert: „Trotzdem seien wir zwei souveräne Familien, die autonome, wenngleich gemeinsame Interessen vertreten.“ Auch bei den nächsten Treffen sind “die Väter und Mütter” nicht bereit, über die Frage der Anwälte zu entscheiden.

Als nun der Tag der Hochzeit naht und eine hitzige, von den hochdotierten Anwälten moderierte Debatte darüber ausbricht, wie man Ihr neues Haus am Fuße beider Grundstücke finanzieren könnte, kommen “die Mütter und Väter” zur Übereinkunft, einen Kredit dafür aufzunehmen, den Sie und Ihre Zukünftige abzahlen sollen. Auf Ihren Einwand, einfach bei den Anwaltskosten zu sparen, werden Sie mit dem Hinweis vertröstet, dass alles seine Zeit brauche.

Am Tag Ihrer Hochzeit (bereits Eigentümer eines mit Hypotheken belastetem Haus) legen Ihnen die Anwälte noch kurz vor der Zeremonie einen Ehevertrag vor, durch den vor allem die Souveränität der beiden Familien gewahrt bleiben und durch die beiden Anwälte gesichert werden soll, in Gelddingen allerdings leben Sie von nun an mit dem Kopf in der Schlinge.

Schließlich geben Sie Ihr Ja-Wort. Und Sie werden das Gefühl nicht los, dass diese Ehe halbherzig ist und keine sein soll und die Scheidung Sie irgendwann sehr, sehr teuer zu stehen kommen wird.

Umdada-umdada-Hörprobe. Das kostet alles Geld!

PS: Deutschlands Verteidigungshaushalt wird derzeit mit rund 28 Milliarden Euro beziffert, Volkswirte meinen, das sei eine Dunkelziffer, die Wehrpflicht sei knapp 20 % teurer.

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Die wundersame Realität http://superdemokraticos.com/themen/luge/die-wundersame-realitat/ Wed, 29 Jun 2011 07:17:07 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=4327

Die Wirklichkeit ist nicht nur merkwürdiger als die Fiktion, sie ist auch hässlicher und schöner, komplexer, bewegender, einfallsreicher. Und sie verändert sich. Und sie endet nie.

(c) Maartje

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Gipsfiguren http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/gipsfiguren/ http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/gipsfiguren/#comments Tue, 28 Jun 2011 14:13:16 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=4283

Manchmal ist die Wahrheit nicht gut genug. Manchmal verdienen die Menschen mehr. Manchmal verdienen die Menschen, dass ihr Vertrauen belohnt wird. Batman in „The Dark Knight“

Lügen ist im Spanischen ein intransitives Verb. Das bedeutet, dass es für sich allein stehend eine Bedeutung hat und keine weitere grammatische Bestimmung benötigt. Miento, das ist ein schönes Beispiel, und ich glaube, ich habe das erste Mal mit etwa acht Jahren gelogen. Absichtlich. Ich stamme aus einer sehr katholischen Familie, von einer Großmutter, die neben einer lebensgroßen Marien-Statue im Schlafzimmer schlief. Ich verstehe Buñuel und Bataille und die europäischen Surrealisten. Ich verstehe sie ganz und gar, da meine Kindheit voll von Horrorszenarien war. Die Kindheit beschützen – so ein Quatsch. Die 1980er Jahre in der bolivianischen Provinz. Die Pfarrer in meinem Land erzählten uns bis ins kleinste Detail von all den Wunden auf Jesus‘ Körper. Meine Oma verstand die Tränen, die dicken Tränen der Trauer tragenden Maria. Dank der Enzyklopädie „Lo Sé Todo“ (dt. „Ich weiß alles“) bin ich schon sehr früh zum Atheismus konvertiert. Ich ertrug die Nachbildung der zerstückelten Heiligen, die in einigen Kirchen wie Trophäen aufbewahrt wurden, einfach nicht.

Ich log mit acht Jahren zum ersten Mal, als meine Eltern von einem Tag auf den anderen, mit ihrer Scheidung, beschlossen, meine Erziehung zur jungen Dame, angelehnt an den Opus Dei, zu unterbrechen. In dieser Zeit war Gott im Haus meiner Großmutter allmächtig und allgegenwärtig, und würde ich nicht gehorchen, würde ich auf dem direkten Weg in die Hölle kommen. Das Perfide daran war, dass mein toter Großvater ihr Spion war. Er begleitete mich bis in meine intimsten Gedanken, und alles was über die gesetzte Normalität hinausging, wurde sofort meiner Oma gemeldet, mit der mein Opa und Gott von Zeit zu Zeit redeten. Meine Großmutter hatte einen Kontrollzwang. Sie musste kontrollieren, was wir lasen, was wir machten, was wir anzogen und was wir dachten. In jenen Jahren waren ihre Versuche brutal, das wilde Tier, das in uns allen wohnt, zu zähmen. Sie versuchte das mit dem Schmerz der Gipsfiguren, durch das Opfer und durch den äußeren Anschein zu erreichen, denn bei mir zu Hause logen alle, inklusive meiner Oma, mit den besten Intentionen, wild durcheinander.

Die Gehirnwäsche, der sie uns unterzog, war sehr effektiv. Der komplexe Aufbau dieser Horrorgeschichte, mit welcher sie uns zu dem Glauben verleitete, wir würden permanent observiert werden, führte dazu, dass ihre Autorität jahrelang weder von meinem Cousin noch von mir jemals in Frage gestellt wurde.

Ich wusste, dass die anderen Kinder lügen, ich war absolut sicher, dass sie das taten, aber es erschien mir nicht möglich, dass der komplette Diskurs über die Hölle und über meinen Opa eine einzige Farce sein könnte. In unserer katholischen Schule hingen überall Kreuze an den Wänden. Wir waren an dem Punkt angelangt, an dem die Kinder in Uniform sich damit vertraut machen mussten, die Beichte abzulegen, denn in ein paar Monaten würden wir die Erste heilige Kommunion empfangen.
Sünde, Buße und Reue waren die am häufigsten benutzen Wörter in meinem Umfeld, jetzt, wo sich die Welt nur noch um das Kleid drehte, das ich am Tag der Zeremonie tragen würde. Zu Hause die Schwarz-weiß-Fotografie der lächelnden Großeltern, die für uns Cousins beunruhigend war. Es sah so aus, als würde mein Opa dir direkt in die Augen sehen, egal wo man sich im Raum befand. Wenn wir uns schlecht benommen hatten, wagten wir nicht mehr es anzusehen. Das ist definitiv der Moment, in dem ich mich der Angst vor dem „Big Brother“ von Orwell am nächsten fühlte, und ich muss gestehen, dass ich diesem großen Druck nicht standhalten konnte.

Mit acht Jahren entschied ich eines Tages, die Verantwortung für mein Handeln zu übernehmen. Ich erzählte, ich hätte keine Hausaufgaben, und verbrachte den Nachmittag damit, im Gemüsegarten zu spielen. Am Abend lernte ich die Schlaflosigkeit kennen, entdeckte die Vielfalt der Albträume, und am nächsten Morgen stellte ich beim Frühstück fest, dass alles in Ordnung war. Ich fühlte absolut gar keine Reue. Ich dachte immer, dass mein Großvater ein beeindruckender Mann war, dann begann ich seine Lebensgeschichte in Frage zu stellen – über die Erzählungen meiner Oma hinaus. Ich erinnere mich nicht mehr an ihn, als er noch am Leben war und aus den Bildern, die von ihm blieben, lässt sich nicht schließen, dass er ein besonders gläubiger Mann war. Außerdem fand ich in der Enzyklopädie das Wort Atheismus und beschloss, nicht mehr regelmäßig am Religionsunterricht teilzunehmen. Obwohl es mir nie gesagt wurde, störte dies niemanden. Meine Eltern hatten sich ja scheiden lassen.

Also begann ich, in den Freistunden Basketball zu spielen. Ich machte die Erstkommunion, weil Pfarrer Manuel Einfluss hatte, und er wollte, dass ich ins Team komme. Ich schätze ihn sehr, wir begrüßen uns auf der Straße und gehen etwas trinken, jedes Mal wenn wir uns sehen. Er ist jetzt kein Pfarrer mehr, er war nie ein großer Theologe und seine Interpretation der Frage dreht sich um einen einfachen Satz: Der Mensch lebt durch seine Taten, nicht durch seinen Glauben. Wenn man also bewusst handelt und weiß, warum man das tut, ist alles gut. Atheismus ist eine weitere Möglichkeit, die uns der Glaube bietet.

Meine Erstkommunion war eine Pantomime. Hier in Berlin lache ich über mein panisches Gesicht, das ich genau vor dem Gang zur Kommunion machte, weil ich die ganze Welt damit belog. Ich wusste nie, wie es bei großen Feierlichkeiten zugeht, aber mit acht Jahren entdeckte ich die Macht des Wortes und die Notwendigkeit, wasserdichte Geschichten zu erfinden, die auch scharfsinnigen Rückfragen standhielten. Genau damit hat man vor allem Macht, wenn man in der Lage ist, andere dazu zu bringen, Fehler oder irgendeine Handlung zu begehen. Und freiwillig auf diese Macht zu verzichten, ist vielleicht der einzig wahre, revolutionäre Akt, den wir von uns selbst erwarten können. Die Doppelmoral, die darauf ausgerichtet ist, den Anschein zu retten, ist wie ein Parasit, und häufig hält sie nur die Angst, mit der wir erzogen wurden, am Leben.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Fiktion http://superdemokraticos.com/themen/luge/fiktion/ Sun, 26 Jun 2011 07:00:10 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=4252

(c) Ulla Loge

Mmh… wegen all dieser komplizierten Fragen wurde ich ein großer Fan der guten alten Fiktion! Und übrigens: Was ist eigentlich die Definition von Wahrheit?

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Zu viele Süßigkeiten http://superdemokraticos.com/laender/peru/zu-viele-susigkeiten/ Fri, 24 Jun 2011 08:20:56 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=4208 Die Superdemokraticos boten mir an, ausgehend von der Wahrheitskommission, einer Institution, über die ich letztes Jahr auf dem Blog schrieb, diesmal eine Abhandlung über das Thema Lüge zu verfassen. Gerne werde ich dieser Bitte nachkommen und im Anschluss von der Lügenkommission berichten, dem am weitesten verbreiteten und traditionsreichsten Netzwerk der peruanischen Gesellschaft.

 

Ich versuche mich kurz zu fassen, denn – wie sagen die Süßwaren-Verkäufer in den Bussen so schön – ich möchte ja nicht eure schöne Fahrt unterbrechen, ich komme nur eben vorbei, um dieses Produkt anzubieten, und ich mache diese Bemerkung nicht wegen euch, sondern weil ich selber viel zu viele von diesen Süßigkeiten gegessen habe.

Perus interner Krieg begann mit dem Zusammenstoß „Die subversive Gruppe Sendero Luminoso (Leuchtender Pfad)“ vs. „Das peruanische Militär“. Er verwandelte sich schnell zu einem Massaker, bei dem die Bewohner der ärmsten Gegenden – dort, wo die Rebellion angefangen hatte – systematisch von beiden Fronten geschändet (die Damen) und hingerichtet (Herren und Kinder) wurden. Der aktuelle Stand: etwa 70.000 Tote. Diese Verluste wurden von einem Land mit dem schwersten und übergangenen inneren Konflikt schlicht und ergreifend jahrelang ignoriert, bis eine kurze und scharfsinnige Übergangsregierung nach einer brutalen Diktatur das Licht der Welt erblickte und wie ein Psychoanalytiker notierte: Denk daran, das lässt dich nicht weiterkommen. Und sie macht sich daran, eine Wahrheits- und Versöhnungskommission einzusetzen: für öffentliche Anhörungen der traumatisierten, quechua-sprachigen Verwandtschaft, die das „moderne“ Peru lieber vergessen würde, für Militärsanktionen und zivile Entschädigungen, welche die folgenden Regierungen nicht übernehmen wollen.

Das ist eine Dosis Wahrheit, der sich nur eine Lügenkommission entgegenstellen konnte, die auf ihrem monumentalen, gestreckten Mittelfinger jenes weise Sprichwort Platons schwenkt: WER DIE GESCHICHTE ERZÄHLT, LENKT DIE GESELLSCHAFT. Dieser schleimige Organismus unterwandert die gesamten soziale Struktur, sein Ursprung waren „gewisse“ Politiker, aber zu seinem tatsächlichen Ruhm verhalfen ihm die Medien (so, dass war mein Spruch, ich steige hier wieder aus dem Bus, denn ich komme gerade von einer dieser Wahlveranstaltungen, die dich so hart auf den Boden der Tatsachen zurückwerfen, als wärst du gegen Holz gerannt). Da wir so sehr daran gewohnt sind, betrachten wir die Lüge, die Demagogie lediglich mit einem Stirnrunzeln und akzeptieren fast die falschen Versprechungen als eine natürliche Charaktereigenschaft der Machthabenden, als inhärenten Defekt der Politiker-Klasse. Und ich fragte mich voller Angst, ob sich die Legitimierung der Verlogenheit im Alltag reproduziert; ich dachte eigentlich nicht! Denn ich kann immer noch sehen, wie der Nächste denunziert, ihm die Maske vom Gesicht gerissen wird, wie Kinder für Lügen und Betrunkene für die Wahrheit getadelt werden. Es gibt eine gewisse Rangordnung: wichtiger als der Anstand ist die Verteidigung eines persönlichen Territoriums der Wahrheit, das uns vor der von 58 Millionen Händen verfassten Fiktion retten wird.

In politischer Hinsicht glaubt jeder an das, was ihm passt; um seine Position, seine Sicherheit behalten zu können, gibt es für jede Tendenz und Zweckmäßigkeit ein Informationsmedium. Das brachte uns die Meinungsfreiheit bei: Wenn es dir nicht gefällt, schalte einfach weiter bis zu einem Sender, der eine Version bringt, die sich an deine Vorlieben anpasst.

An diesem Punkt angekommen könnte ich mich buchstäblich verlieren in all den Beispielen für Verheimlichungen, Täuschungen und Zynismus, die unser Erwachen zwischen der Überschrift und den täglichen Abschlusskommentaren schmücken. Aber ich beschränke mich auf einen einzigen Fall, den ich ergreifend lächerlich finde. Es handelt sich um die Geschichte eines Mannes, der die Willensschwäche aus der jungen Wählerschaft vertrieb (die Generation X, die sich ihre gesamte Lebenszeit darauf vorbereitete, keine X zu setzen, da sie die Worte der Politiker als leere Worte versteht, da Politiker ja keine Dichter oder Ähnliches sind). Er mobilisierte und begeisterte sie mit Marketingstrategien, unwiderstehlichen Farbdesigns und wahnsinnig unterhaltsamen Kampagnen in den sozialen Netzwerken. Dieses Post-Pubertäre Phänomen wurde über seine Initialen PPK bekannt, und ich habe es immer als äußerst unangenehm empfunden. Denn jeder Erwachsene oder Post-Pubertäre, der was auf sich hält, wusste bereits, dass er ein Spielball der internationalen Interessen ist.

Um sich von dem negativen Präzedenzfall Fujimoris, dem ehemaligen peruanischen Präsidenten, zu distanzieren, dessen doppelte Staatsbürgerschaft bekannt wurde, als seine Vergehen ans Licht kamen und er in einem Privatjet nach Japan flüchtete, wo er für Jahre Asyl erhielt, versprach PPK, seine U.S.-amerikanische Staatsbürgerschaft abzulegen. Während des Wahlkampfes bestätigte er, die ersten Schritte bereits eingeleitet zu haben und seine Fans glaubten ihm. Als er jedoch nach seiner Amtszeit erneut danach befragt wurde, erklärte er rotzfrech, dass diejenigen, die das geglaubt hätten, doch echt dumm sein müssten. Ich erinnerte mich an den Personalausweis von Fujimori, auf dem stand, dass er am 28. Juli geboren wäre, genau am Nationalfeiertag, was für ein außergewöhnlicher Zufall, auch das war eine Lüge. Er war nicht mal Peruaner. Eine Lüge, wir sind alle Peruaner.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Für eine neue Drogenkultur http://superdemokraticos.com/laender/kolumbien/fur-eine-neue-drogenkultur/ Tue, 21 Jun 2011 07:00:08 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=4194

Ein globales Netz? Kokain-Ströme 2008. Quelle: UNDOC, United Nations Office on Drugs and Crime

Die hitzige Debatte über die kürzlich abgegebene Erklärung der Internationalen Kommission für Drogenpolitik, der Kofi Annan und eine Gruppe Intellektueller und Politiker angehören, unter ihnen auch der Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa und der ehemalige Präsident des Zentralbanksystem der USA, Paul Volcker, möchte ich gerne mit einigen Gedanken zum weltweit bekannten Scheitern des Antidrogen-Krieges weiter anfachen. Dieser Krieg ist ein uralter Kreuzzug, den Richard Nixon einst begann und der nun, fast vierzig Jahre später, einen Stand von tausenden Toten, zerrütteten Gesellschaften und einen exponentiellen Anstieg der Konsumenten erreicht hat.

Bis vor einigen Monaten lief auf allen kolumbianischen Radiosendern eine Werbung, in der sich ein kleines Mädchen mit scheinheiliger und süßlicher Stimme an die Kokabauern wandte, um sie zu bitten mit der Kultivierung der „mata que mata“, der Pflanze, die tötet, aufzuhören. Und ich sage bewusst „scheinheilig“, denn in Wahrheit handelt es sich hierbei um eine Drohung, die dadurch, dass ein kleines Mädchen sie überbringt, noch markerschütternder wird. Die Werbung, die der ehemalige Präsident Álvaro Uribe im Zuge der Kampagne zur Substitution des illegalen Anbau ausstrahlen ließ, hatte einen äußerst transparenten Subtext: Die Bauern sind nicht böse, sondern ähneln leicht verblödeten Kindern, die man mit Geduld und Geschicklichkeit in die richtige Richtung lenken muss, wie Schullehrer das machen, die aus Gewohnheit mit Zuckerbrot und Peitsche arbeiten. Und Koka ist logischerweise diese teuflische „mata que mata“, die Pflanze, die tötet, ein tropisches Abbild des Baums der Erkenntnis, ein teuflisches Wesen das menschliches Leben vernichtet. Die Auflistung der didaktischen Gegensätze – gute Pflanzen/schlechte Pflanzen, Belohnung/Bestrafung, Lehrer/Schüler, Erwachsener/Kind, Leben/Tod – sind von A bis Z mit der Ethik und Ästhetik der Zwangskatholisierung durchsetzt, die auf dem amerikanischen Kontinent seit 1492 praktiziert wurde.

Dieser christliche Diskurs – und ich möchte betonen, dass die Werbung mit dem Mädchen nur ein Beispiel unter vielen ist – stellt für die indigenen Bevölkerung eine enorme Provokation da. Die Indigenen haben nicht nur eine auf ihren Urahnen basierende Beziehung zu dieser Pflanze, sondern gehören auch zu der Bevölkerungsgruppe, die vom Drogenkrieg am heftigsten betroffen ist. Laut den Daten der Kommission der Vereinten Nationen für Menschenrechte stieg die Ermordung von Indigenen 2009 im Vergleich zum Vorjahr um 64 Prozent an. Das ist nicht verwunderlich. Denn diese Gemeinschaft ist derzeit eine der wenigen organisierten Widerstandsgruppen, die sich gegen  bewaffnete Übergriffe eines Konfliktes ausspricht, der nicht gerade in geringem Maße von internationalen Einflüssen abhängig ist, die den Drogenpreis bestimmen, und der sich unaufhörlich weiter verändert, um sich selbst am Leben zu erhalten. Es handelt sich also um einen historisch konstruierten Blickwinkel, der auf all jenen Konditionierungen der christlichen und kolonialen Wesensart basiert, und um die stetige Entwicklung einer Arroganz, welche die Beherrschung und Ausbeutung von Territorium zur Folge hat.

All dies deutet auf zwei Dinge hin: zum einen auf die aus der Kolonialisierung stammende, erzwungene Übernahme der Metaphern des christlichen Glaubens für die Betrachtungsweise und Beherrschung der kolonialisierten Umgebung. Zum anderen zeigt sich eine historische Verlängerung dieses Prozesses, das heißt, die aufgezwungenen Metaphern wurden von der Raubbau betreibenden Wirtschaft des modernen Kapitalismus für die darauffolgenden Enteignungen weiter verwendet (Beispiele hierfür sind der Goldrausch, die Gier nach Kautschuk, nach Chinarinde und nun der Kampf um die Kokapflanze).

Und, abgesehen von der angeblich recht weltlichen Lage dieser aktuellen Art der Beherrschung, ist zu beobachten, dass genau wie in den Zeiten der spanischen Kolonialisierung die amerikanische Natur von den jetzigen Ausbeutern lediglich als Wilder Raum, als Ort der Unordnung gesehen, in dem irrationale Kräfte herrschen, die nur gewaltsam unterworfen werden können. Und das wird genauso auf die staatlichen Institutionen als auch auf die faktischen Mächte angewendet, die ihr Gesetz in jeder Gegend umsetzen: die verdorbenen Netzwerke, die sich aus den Narkos, den bewaffneten Gruppen am Rande der Legalität, den lokalen Eliten und den multinationalen Unternehmen bilden.

Lasst uns empathisch die Lügen anprangern: Es ist absolut unlogisch und dumm, einer Pflanze oder einer anderen Substanz moralische Defizite anzulasten. Die Rhetorik, die sich auf diese mittelalterlichen Überreste unserer Kultur bezieht, zielt schlussendlich darauf ab, ein lukratives und scheinheiliges System am Leben zu halten, das die ideologische Kontrolle über die Konsumenten und über die Produktionsstaaten haben soll.

Lasst uns noch empathischer sein: Abgesehen von den rechtlichen und philosophischen Unzulänglichkeiten markiert der Vorschlag der Kommission, nämlich die Legalisierung des Konsums, einen wichtigen Schritt, um das ersehnte Ziel am Ende des Horizonts andeuten zu können. Es wäre eine neue Kultur des Drogenkonsums, die anstatt die Logik des Kapitalismus weiter zu bestärken, ihn in tausend Teile zerspringen ließe.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Postmoralisches Bekenntnis http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/postmoralisches-bekenntnis/ Fri, 17 Jun 2011 06:45:42 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=4095 Vetternwirtschaft (Deutsch), Vetterliwirtschaft (Schweizerdeutsch), Vetterleswirtschaft (Schwäbisch), Spezlwirtschaft (Bayern), Freunderlwirtschaft (Österreich), Klüngel (Rheinland) oder ganz profan Vitamin B: Welchen Einfluss hat der Nepotismus, die Vorteilsbeschaffung für Nahestehende, auf den Umgang mit Wahrheit?

Ich kann mir vieles vorstellen. Ich kann mir zum Beispiel vorstellen, wie man Helmut Kohl wird. Ja, ich kann mir vorstellen, wie man zunächst der sechste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, der „Kanzler der deutschen Einheit“ und „Kanzler der europäischen Einigung“ wird und dann doch als armselige Figur endet. Ich kann mir vorstellen, wie es dazu kommt, dass einer nicht die Namen von Parteispendern nennen will, weil er ihnen sein „Ehrenwort“ (hier der O-Ton) gegeben habe, dies nicht zu tun, Parteiengesetz und Offenlegungspflicht hin oder her. Erst ist man zu dick und zu brav für die Jugend, dann findet man – zu allem Überfluss in einer christlich-konservativen Partei – ein System zum Drin-Funktionieren, inhaliert dessen Eigenlogik, wandelt sie, gestaltet, berauscht sich, teils am System, teils an sich selbst, und schwuppswupps ist man in einem Referenzgebilde, das mit der Welt der Außenstehenden nur noch den Anschein teilt. Das ist ein Zustand, in dem Ehrenworte zu einem wichtigeren Signum für Aufrichtigkeit werden als Wahrheit. Beziehungsweise: Ein Zustand, in dem Wahrheit als Absolutes brüchig wird, weil da auch eine Wahrheit in der Aufrichtigkeit des Ehrenworts liegt. Ich kann mir vorstellen, dass Vetternwirtschaft nicht die Züge des Bösen trägt, nicht einmal aus dem inneren Zirkel der Vetterwirtschaft heraus betrachtet. Ich kann mir vorstellen, dass sie von ihren Protagonisten, dass sie von Leuten wie Kohl als ein Ritual der Freundschaft wahrgenommen wird.

Ich kann mir vieles vorstellen, denn ich habe selbst ein schwaches Wesen. Ich weiß zum Beispiel auch, wie es ist, der Beste sein zu wollen, und ich kenne die Gedanken, die kommen, wenn auf dem Weg Beanspruchtes rüde verwehrt bleibt. Ich kenne die rasenden Bewegungen des Hirns im Falle einer Zurückweisung, und ich weiß, dass es nur eine wenig geringere Verwurzelung in lutheranischer Wohlanständigkeit und kleinbürgerlicher Verzagtheit bedürfte, dass ich mich fallen ließe in die Sphäre der Obskuren. Ich kann mir vorstellen, wie man mit einem Höhergestellten zu handeln beginnt, „um fortzukommen“, wie es so schön heißt. Wahrscheinlich, so stelle ich mir das vor, macht man das gar nicht mit dem verschlagenen Grinsen des Dunkelmanns. Man lacht gemeinsam, schätzt sich ernsthaft wert. So werden sich, stelle ich mir vor, zum Beispiel Professor und Assistent einig: darüber, dass der Jüngere einen Titel verdient hat. Ich kann mir vorstellen, wie man trinkt, bis tief in die Nacht, und bis man sich wechselseitig versichert hat, dass es gut ist und zum Wohle aller.

Ich kann mir vieles vorstellen, ich kann mir auch vorstellen, wie grauenhaft sich ein Reporter fühlt, wenn diejenige Szene einer Recherche, anhand derer man alles zeigen, das gesamte Thema in wenigen tiefenscharfen Bildern erzählen könnte, nicht eintritt, die er daher erfinden muss. Ich kann mir vorstellen, wie er einbricht in das Arsenal anderer Gattungen und sich dort mit den Vorderladern der Literatur reich bewaffnet, um die starren Reihen des Journalismus aufzurüsten. Und wie er dann als Augenzeuge darüber schreibt, was er nur vom Hörensagen kennt. Ich kann mir vorstellen, Interviews zu erfinden wie einst der deutsche Journalist Tom Kummer, und zwar – wie er es in seiner Autobiographie „Blow Up“ beschreibt – nicht allein aus Not, sondern auch, weil der Akt des Erfindens sich manchmal ehrlicher zur Welt verhält als die Behauptung einer Chronik.

Ich kann mir das alles vorstellen, ich kann mir auch Situationen vorstellen, die es notwendig erscheinen lassen, zu töten – und es hinterher zu leugnen. Ich kann mir sogar vorstellen, aus blindem Überlebenswillen zum Massenmörder zu werden. Ja, ich kann mir vorstellen, wie einer wie John Demjanjuk zum Schlächter wurde, sei es in Treblinka oder Sobibor. Ich kann mir auch vorstellen, wie man das eigene Ich vergessen kann, nach einer bösen Tat, und dann – auf eine Art – zu Unrecht bestraft wird, auch als Person, die mal ein Massenmörder war. Ich kann mir vorstellen, jedes Verhalten zu entschuldigen, und ich kann mir vorstellen, mich bis zu einem Zustand zu zweifeln, der tatsächlich „post Moral“ ist und jede Lüge als eine Variation von Wahrheit rechtfertigt.

Dass ich es nicht tue? Nennen wir es Kultur. Oder Spießigkeit. Oder beides.

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Wer ist das denn? http://superdemokraticos.com/laender/venezuela/wer-ist-das-denn/ Wed, 15 Jun 2011 07:01:01 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=4109 1.

In meiner dritten Nacht in Sao Paulo, Brasilien, unterhielt ich mich mit ein paar Typen, die ich gerade eben auf einer Party kennengelernt hatte: Geschichtsprofessoren, Produzenten, Philosophen und Künstler. Das war 2005. Es gab tolle Live-Musik und teure Cachaça. Dennoch haben wir es irgendwie geschafft, am Ende der Nacht bei den Themen Sex und Politik zu landen. Zwei Themen, die – und das wissen wir ‚Männer in Aktion‘ – weniger dazu da sind, darüber zu reden, als sie zu praktizieren.

Möglicherweise lag es daran, dass ich die Sprache ziemlich schlecht beherrschte, aber als ich einmal aus der Küche zurückkam, mit vernebeltem Blick und einer Flasche in jeder Hand, wurde mir bewusst, dass für meine Gesprächspartner das zweite Thema wesentlich interessanter war als das erste. Denn nach den anarchistischen Bewegungen, den alternativen Medien und dem Guerillakino, fiel er, der Name, besser gesagt der Nachname, auf den alle Venezolaner im Ausland seit etwa zehn Jahren angesprochen werden, und zwar immer in diesem fragenden Ton: Chávez?

Ich lache dann zuerst immer und wenn ich auf einer Party bin, frage ich nach einem neuen Drink. Und wenn es keinen neuen Drink gibt, denke ich an Sex. Aber ich antworte. Zuerst mit einer Scherzfrage: „Wer ist das denn? Den kenne ich gar nicht.“ Danach erzähl ich irgendetwas, das mir einfällt, um zu widersprechen.

Aber dieses eine Mal habe ich das Orakel gemimt: „Was wollt ihr wissen?“

Eine gute Freundin, die ich wegen ihres besonnenen Charakters, ihrer Lebenserfahrung und einer Sache, die ich gerne als mütterliche Klarheit interpretiere, sehr schätze, sagt immer zu mir: „Das, was in Venezuela derzeit passiert, ist wahnsinnig interessant… “, dann legt sie eine Pause ein und beendet den Satz: „ …wenn wir in Europa leben würden.“

So ungefähr wollte auch ich meinen neuen Kumpels aus jener bilingualen Nacht antworten, aber da fiel mir etwas Besseres ein: Ich lud sie zu mir nach Hause ein, so viele Tage sie auch bleiben wollen. Sie sollen zum Weltsozialforum kommen, das tatsächlich im ersten Quartal des Jahres 2006 in Caracas stattfand.

2.

Während der Feierlichkeiten dieses bezaubernden Massen-Events im darauffolgenden Jahr schaffte es ein Arbeitskollege, eine Retro-Hippie-Touristin von seiner tiefen Bewunderung für den Präsident überzeugen zu können, da dieser, wie er ihr immer wieder versicherte, keine Kosten und Mühen gescheut habe, um die U-Bahn in Caracas in Rekordzeit und nur für sie alle erbauen zu lassen. Und hier ist sie, sagte er – und ich stelle mir vor, wie er erst ihre Augen darauf lenkte, bevor er ihre Hand nahm.

Die Frau hat sich augenblicklich verliebt. In meinen Freund, in die U-Bahn und in Chávez. Mein Freund hat eine sehr zielstrebige politische Meinung: Er zielt immer auf die Mitte, genau auf den Punkt, der zwischen den Beinen der Frauen liegt. Man kann also sagen, in diesem Moment war er ein Diplomat. Er hat mir nie erzählt, ob er schlussendlich Sex mit der Ausländerin hatte oder nicht, aber wenn er hatte, kann wohl niemand verneinen, dass ein geringfügiger Anteil des Zustandekommens dieses Ficks doch auf die Lügen zurückzuführen ist, die sich von der Macht des Präsidenten ableiten lassen.

Die Lüge braucht die Wahrheit, um leben zu können, aber vor allem braucht sie Zeit um zu existieren. Die Lüge gibt es erst, wenn sie sich entfaltet hat, wenn sie geteilt wird, wenn sie hinausgeschrien wird. Aber sie hat auch ein Problem: Sie kennt keine Entfernungen und verändert sich je nach Geographie.

Diese Erfahrung mussten auch die beiden tapferen Brasilianer machen, die es tatsächlich wagten, zu mir zu kommen und bei mir zu Hause zu wohnen. Damals lebte ich in einem kleinen Anbau, zusammen mit meiner Freundin, die allerdings jetzt mit ihrem neuen Freund in Europa lebt und ununterbrochen von den Vorzügen des Fahrradfahrens spricht– um nur eines der Dinge zu erwähnen.

Dieses tapfere, glückliche Paar, beide Liebhaber des anti-imperialistischen Diskurs Chávez, durchreisten verschiedene Städte in Venezuela und machten auch Halt in Caracas. Er wurde krank, und sie pflegte ihn so gut sie konnte. Sie mussten sich damit abfinden zu akzeptieren, dass diese Regierung noch in den Kinderschuhen steckte, und sie stellten auch fest, dass die Preise der Produkte und Dienstleistungen unverhältnismäßig hoch im Vergleich zu den Mindestlöhnen und Durchschnittsgehältern waren, aber dass es von außen betrachtet besser wirke. Ich wollte nicht, dass sie desillusioniert das Land verließen, und meinte zu ihnen, dass das Gleichgewicht wiederhergestellt werden könne, wenn man verstünde, dass es auch von innen heraus betrachtet viele Menschen gibt, die es gerne schlechter sehen wollen würden.

Schon kurz nach Beginn seiner Amtszeit etablierte sich bei vielen Venezolanern, die ich kenne, eine einfache Formel, um die nationale Politik analysieren zu können: Wenn dir Chávez gefällt, verteidigst du ihn, wenn er dir nicht gefällt, kritisierst du ihn. Ende der Geschichte. Jeglicher Zweifel verortet dich auf der jeweiligen Seite oder – und das ist noch viel schlimmer – in einem unakzeptablen Limbus. Einem schwarzen Loch. Chávez hat mittlerweile sehr viel Macht an sich gezogen. Er konfiszierte Schuld und Verdienst. So ziemlich alles, was passiert, unterliegt seiner Verantwortung. Geht es dem Land gut, ist das so dank ihm und seiner Politik. Geht es dem Land schlecht, dann liegt das ebenfalls daran – obwohl des Öfteren auch die abgedroschenen Phrasen der Medien ins Spiel gebracht werden.

3.

Ich weigere mich, an dieser automatischen Lüge teilzunehmen. Zwölf Jahre bevor er an die Macht kam und einen Sozialismus des 21. Jahrhunderts verkaufte, der wohl noch hundert Jahre braucht, bis er sich tatsächlich findet, kam ihm – nur um ein Beispiel zu nennen – eine Sache in den Kopf, die er „Misión Vivienda“ nannte. Bei dieser Mission wollte er nichts anderes als den Bau von Millionen von Häusern für Millionen von Menschen anregen, die keine Häuser hatten. Das wäre ehrenhaft und begrüßenswert gewesen, wenn Indikatoren der Makroökonomie und der Produktion nicht ein Bild der Realität konstruieren würden, welches das verblüffende Gegenteil davon aufzeigt.

Ich nahm nicht nur Teil an einer journalistischen Untersuchung zu diesem Immobilienbetrug, der die Unter- und Mittelschicht Venezuelas empfindlich traf und eine Konsequenz aus der Korruption, der niedrigen Produktion von Stahlstreben und Beton und der Konfrontation des öffentlichen Sektors mit den privaten Baufirmen des Landes war, sondern ich habe zudem auch noch einen verwegenen Umzugsdurchschnitt: Pro Lebensjahr bin ich 0,87 Mal umgezogen. Sollte ich vor Oktober diesen Jahres erneut umziehen, steigt dieser Schnitt auf 0,90.

Somit weiß ich, was es heißt, unter Obdachlosigkeit zu leiden. Somit hätte ich mich wahnsinnig darüber gefreut, wenn dieses Versprechen, dass ein Jahr vor der Präsidentschaftswahl gegeben wurde, zur Freude vieler Leute gehalten worden wäre. Aber ich bin nicht die Touristin aus der U-Bahn. Und deshalb hätte ich es zwar gerne, glaube aber nicht mal auf lange Sicht daran, dass es sich erfüllen kann. So ist das mit diesem Land. Als Chávez versprach, seinen Namen zu ändern, wenn es ein Jahr nach seinem Amtsantritt immer noch bedürftige Kinder geben würde, war die Lüge noch nicht vollzogen. Aber so sind Revolutionen nun mal, sie fordern neue Paradigmen. Der tatsächliche Preis, der einen Mann antreibt, der so sehr von der Macht, von sich selbst und von der Geschichte begeistert ist, führt meist auch die Bürde der Erinnerung mit sich. Nun sind zwölf Jahre vergangen, und soweit ich weiß, heißt er immer noch Hugo.

In Fällen wie diesen sollte man an die Kraft des Wortes erinnern. Dinge anders zu benennen, bietet andere Perspektiven, sich neue Möglichkeiten vorzustellen und diese auszubauen. Und genau das ist es, zwischen den positiven sozialen Maßnahmen und einer langen Liste von Niederlagen, was bislang gemacht wurde. Wo es früher eine Realität mit einem Namen gab, existiert nun eine ähnliche Realität, sei sie besser oder schlechter, aber unter einem anderen Namen. Dieser Name vermittelt vor allem Hoffnung für die Ärmsten der Armen. Und ja, natürlich, das birgt etwas Revolutionäres, aber eher auf einer populistischen als auf einer sozialistischen Ebene. In Zukunft werden keine Lügen mehr existieren. Und ein guter Politiker wird ebenso wie ein guter Künstler wissen, wie schon Antonio Machado schrieb, dass die Wahrheit auch nur erfunden wird.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Die Wahrheit im Auge des Betrachters http://superdemokraticos.com/themen/luge/die-wahrheit-im-auge-des-betrachters/ Tue, 14 Jun 2011 07:08:39 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=4119

(c) Sole Otero

So! Meine eigene Wahrheit ist, wie ich die Welt sehe.

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